Das Wichtigste im Überblick
- Die demografische Entwicklung beeinflusst die Unternehmen. Sie sollten sich viel intensiver mit der Altersstruktur ihrer Beschäftigten beschäftigen und darauf reagieren.
- Unternehmen mit vorrangig älteren Beschäftigten sind stark, wenn der unmittelbare Zusammenhalt im Team gut unterstützt und gefördert wird.
- Je länger die Beschäftigten im Unternehmen bleiben, je älter sie werden, desto höher ist die Bindung. Das verkennen viele Unternehmen.
- Viele Ältere wollen weiterarbeiten. Allein von den 80.000 Menschen, die aktuell monatlich in Rente gehen, könnte man vermutlich 10 bis 15 Prozent im Arbeitsprozess halten.
- Das Expertengespräch mit Anne Brüne, Senior Beraterin bei Great Place to Work, und André Schleiter, Projektmanager bei der Bertelsmann Stiftung.
Die Generation Babyboomer geht in Rente – eine Herausforderung für viele Unternehmen in Zeiten des Fachkräftemangels. Was müssen sie tun, damit ältere Beschäftigte sich wohlfühlen und im Unternehmen bleiben? Die Unternehmensberaterin Anne Brüne und André Schleiter von der Bertelsmann Stiftung im Gespräch über einen wichtigen Aspekt der sozialen Nachhaltigkeit.
André Schleiter: Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Frau Brüne. Wussten Sie, dass gegenwärtig pro Monat etwa 80.000 Menschen aufgrund ihres Renteneintritts den Arbeitsmarkt verlassen, das sind knapp eine Million Beschäftigte in diesem Jahr? Junge Menschen oder die Zuwanderung von Fachkräften werden diese Lücke nicht schließen. Die demografische Entwicklung beeinflusst die Unternehmen. Sie sollten sich viel intensiver mit der Altersstruktur ihrer Beschäftigten beschäftigen und darauf reagieren.
Anne Brüne: Ja, das ist so. Das zeigen auch unsere Befragungen zum Thema Generationenvielfalt in Unternehmen. Wenn wir hier auf die soziodemographischen Daten schauen, sehen wir: Der Trend geht weg von den schablonenhaften Generationsstereotypen und hin zu den Altersgruppen, die vielfältig und divers sind. Die Effekte von Alter oder von Beschäftigungsdauer sind viel aussagekräftiger als die Zugehörigkeit zu einer Generation. Das muss man wissen, um Instrumente, Inhalte und Maßnahmen für die Rekrutierung von neuen Mitarbeitenden, für Onboarding-Prozesse oder für einen wertschätzenden Abschied zu entwickeln und zu gestalten. Diese von Ihnen angesprochene Lücke kann nur geschlossen werden, wenn die Unternehmenskultur attraktiv für Beschäftigte, Bewerberinnen und Bewerber ist.
André Schleiter: Das sehe ich auch so: Das schablonenhafte Denken in Generationen ist überholt. Die Unterschiede und Erfahrungen innerhalb eines Jahrgangs sind einfach zu groß. Zudem müssen wir genauer auf die Arbeitgeber schauen: Bei den 55- bis 65-Jährigen sehen wir aktuell eine paradoxe Situation: Auf der einen Seite gibt es Großunternehmen, die in Krisenzeiten dazu neigen, meistens ältere Beschäftigte sozialverträglich abzubauen. Wenn dann Lücken im Personalbestand auftauchen, fällt es diesen Unternehmen schwer, plötzlich etwas für die Bindung älterer Fachkräfte zu tun. Auf der anderen Seite beobachten wir kleinere Unternehmen, die nicht abbauen, sondern händeringend Fachkräfte suchen. Sie achten darauf, einen Experten oder eine Expertin um die 60 möglichst lange fit und gesund an Bord zu halten – vielleicht durch veränderte Aufgaben oder veränderte Rollenprofile zum Beispiel als Berater. Diese Paradoxie in der Arbeitswelt ist ein ganz wichtiges Thema. Denn die Idealvorstellung, dass möglichst alle bis 67 gesund und fit arbeiten können und dürfen, entspricht nicht der Wirklichkeit.
Anne Brüne: Dagegen steht der Megatrend der Silver Society. Unsere Gesellschaft wird zwar immer älter, aber die Art und Weise, wie wir älter werden, ändert sich: Das alte 70 ist das neue 60! Die Einstellung zu Arbeit und Freizeit ist schon lange keine Frage mehr des biologischen Alters. Ich kenne Menschen, die sagen selbstbewusst, mit 67 habe ich noch nicht das Ende der beruflichen Laufbahn erreicht. Denn die Lebensspanne von 30 bis 60 ist genau so lang wie die Spanne von 60 bis 90. Diese Menschen wollen nicht aus dem Beruf aussteigen, sondern neue Aufgaben übernehmen. Das ist natürlich für Unternehmen eine Herausforderung. Sie müssen für diese Altersjahrgänge entsprechend die Gesundheitsförderung oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie anpassen. Sind die Leistungen der Personalabteilungen darauf abgestimmt und werden die Bedarfe gemeinsam mit den Mitarbeitenden ermittelt, um sie im Unternehmen zu halten? Das sind wichtige Fragen. Wir beobachten in unseren Studien: Für Unternehmen, die viele junge Mitarbeitende haben, ist es wichtig, attraktive Karrierewege anzubieten sowie die Weiterentwicklung und das Networking zu fördern. Auch Spaß und Feiern sind wichtige Aspekte. In der Mitte des Berufslebens sind Familienangebote und Führungsentwicklung wichtig. Unternehmen mit vorrangig älteren Beschäftigten sind stark, wenn der unmittelbare Zusammenhalt im Team gut unterstützt und gefördert wird, zum Beispiel in Form von Teambudgets oder durch Freistellung für ehrenamtliche Projekte (CSR). Wir stellen fest, dass Sinnstiftung und das Sich-einbringen-können dann noch wichtiger werden.
André Schleiter: Es kommt auf die Arbeitsbedingungen, die Arbeitsinhalte und auf das Führungsverhalten an. Und das ist unabhängig von Generationen. Das Negativbeispiel ist ein 50-Jähriger oder älter, der 20 Jahre lang im Unternehmen immer die gleiche Routinetätigkeit ausgeübt hat. Der ist vermutlich froh, möglichst früh in den Ruhestandgehen zu können, weil er das Arbeiten als monoton und unbefriedigend erlebt hat. Das Gegenteil kann ein Vorgesetzter bewirken, der mit den Mitarbeitenden im Dialog steht und den 58-Jährigen Folgendes fragt: Was können wir tun, damit du gesund und fit bleibst und die Arbeit für dich interessant bleibt? Das sollte übrigens unabhängig vom Alter geschehen. Wenn die Unternehmensführung nicht auf die Qualität der Arbeitsbedingungen achtet, dann verlassen auch jüngere Beschäftigte ihren Arbeitgeber . Dessen sind sich viele kleinere Unternehmen, die Personalmanagement quasi nebenbei machen, nicht bewusst. Dort wird dann der Fachkräftemangel beklagt, wenn plötzlich die Leute von Bord gehen. Oft ist es einfach fehlende Wertschätzung, die Beschäftigte frustriert und sie veranlasst, sich einen anderen Arbeitgeber zu suchen. Eine hohe Mitarbeiterzufriedenheit wird dagegen durch eine menschenorientierte Unternehmensführung ausgelöst.
Anne Brüne: Sie sprechen zwei spannende Themen an: Bindung und Engagement. Wir haben Mitarbeitende gefragt, ob sie ihr Unternehmen im Freundes- und Bekanntenkreis weiterempfehlen würden. Das interessante Ergebnis: Die 55- bis 65-Jährigen bewerten ihr Unternehmen positiver als andere Jahrgänge. Das tun auch jüngere Mitarbeitende, wenn sie in das Unternehmen eintreten, weil sie in der Regel noch nicht viele negative Erfahrungen im Unternehmensalltag gesammelt haben. In den mittleren Altersgruppen ist das Urteil getrübt von kritischen Rückschlägen während der Berufskarriere. Bevor es dann in die Rente geht, steigt die Zufriedenheit mit dem Unternehmen wieder an. Der Blick über den nationalen Tellerrand bestätigt das: Deutschland ist ein sehr bindungsorientiertes Land. Die Menschen überlegen länger, ob sie den Arbeitgeber wechseln. Je länger die Beschäftigten im Unternehmen bleiben, je älter sie werden, desto höher ist die Bindung. Das verkennen viele Unternehmen. Es ist ein Trugschluss, dass die älteren Mitarbeitenden einfach aus Bequemlichkeit bleiben. Im Gegenteil, sie sind eher bereit, die Extrameile zu gehen.
André Schleiter: Dieses Potenzial wird noch viel zu häufig achtlos stillgelegt. Viele wissen nicht, dass die Erwerbsbeteiligung im Alterssegment 60 plus aktuell am allerstärksten steigt. Viele Ältere wollen weiterarbeiten. Allein von den 80.000 Menschen, die aktuell monatlich in Rente gehen, könnte man vermutlich 10 bis 15 Prozent im Arbeitsprozess halten, indem man ihnen ermöglicht, mit reduzierter Arbeitszeit zu arbeiten oder veränderte Aufgaben wahrzunehmen. Beispielsweise indem sie, junge Leute in der Ausbildung unterstützen oder schwierige Kunden betreuen. Diese Potenziale gilt es zu heben. Diese erfahrenen Beschäftigten sind größtenteils exzellent ausgebildet und besitzen eine enorme Erfahrung.
Anne Brüne: Dafür ist es wichtig, dass Unternehmen wieder zu Orten werden, wo man physisch zusammenkommen kann. Sie sollten im Idealfall eine Art kulturelle Heimat bieten, in der nachhaltiges Wirtschaften und Handeln eine große Rolle spielen. Das spricht alle Altersgruppen an und ist hochrelevant für die Motivation. Unsere Studien zeigen, wenn Nachhaltigkeitsziele in der Unternehmensstrategie klar verankert sind, führt das zu mehr Engagement bei den Beschäftigten.
André Schleiter: Ebenso wichtig ist, dass die Beschäftigten unterschiedlichen Alters respektvoll und anständig miteinander umgehen. Wird das von der Unternehmensleitung nicht gefördert, ist es schwierig, junge Mitarbeitende zu rekrutieren und ältere zu binden. Die Folge: Die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens wird massiv gefährdet.